12.Kapitel: Wer bin ich?

"Vaith!" Mit einem stöhnen und blinzelnd kam der blonde Vizekapitän wieder zu sich. Das Erste was er zwischen den dichten Nebelschwaden sah, die seinen Blick verschleierten, war das verschwommene Bild eines Gesichtes.

Zuerst dachte er an Grace, doch das war irgendwie absurd. Sie besaß keine Stimme, mit der sie seinen Namen hätte rufen können. Selbst wenn er es sich gewünscht hätte, doch seinen Namen würde er aus ihrem Mund niemals hören.

Also verengte er seine Augen zu schlitzen und versucht zu erkennen, wer da über ihm kreiste und nicht still stehen wollte.

Das Gesicht gehörte Kiona, doch direkt neben ihr, war Fenrir, die ihn aus besorgten, blassen violettfarbenen Augen ansah.

Als er die Farbe ihrer Augen erblickte, fiel es ihm wieder ein und er fuhr hoch. Nur um ein Haar konnten die beiden Frauen verhindern, dass Vaith mit ihnen kollidierte.

Dafür wurde er sofort bestraft, denn ein stechender Schmerz zog sich von seinem Hinterkopf nach vorn in seine Stirn, von wo aus Blitze zu seinen Schläfen zuckten.

Erneut stöhnte er schmerzerfüllt auf und hielt sich eine Hand gegen die Stirn.

"Verdammt!", knurrte er und wartete einen Moment, bis das unerträgliche Pochen ein wenig nach ließ.

"Wasser", bat er und hörte, wie jemand aufstand und los lief.

"Hier, Freund", kam kurz darauf und als Vaith dieses mal die Augen aufschlug, sah er in das tiefe, beruhigende Braun von Benjamins Augen.

"Kapitän", krächzte er heiser und nahm dankend das Glas entgegen das ihm Ben reichte.

Er nahm einen tiefen Schluck und spürte wie ihm die kühle Flüssigkeit den Rachen hinunter rann, um dort kurz zu brennen, als hätte er Tage lang nichts getrunken. Doch dann entfaltete es seine Wirkung und er gab einen erleichterten Seufzer von sich.

"Danke", murmelte er und sah aus dem Augenwinkel wie Benjamin nickte.

Ohne ein Wort, half Ben ihm auf die Bank zurück, wobei sich Vaith fragte, wie er auf dem Boden gelandet war?

Als sich sein Vize etwas erhohlt hatte, verschränkte Benjamin die Arme vor der Brust und sah seinem Freund eindringlich in die Augen.

"Und jetzt erzähl mir, was da eben passiert ist." Er warf einen schnellen Blick auf Fenrir, die neben Kiona etwas unangenehm berührt herum stand und sich verlegen auf der Unterlippe herum biss.

Vaith musterte sie ebenfalls einen langen Moment, bevor er dem Blick seines Kapitäns erneut begegnete.

"Was hast du mitbekommen?", wollte dieser zu erst wissen.

Zunächst schien ihm Ben etwas unwillig, doch dann nickte er knapp.

"Ich döste, als sich ein violetter Nebel in meinen Geist drängte, der mich versuchte tiefer in die Dunkelheit zu drücken und meine Augen von etwas ab zu wenden. Als ich es bemerkte, wehrte ich mich instinktiv dagegen und erwachte. Ich sah wie du versuchtest gegen etwas anzukämpfen und ich sah Fenrir, die dir gegenüber saß und die dich mit intensiv violetten Augen anstarrte." Er zuckte nur mit den Schultern. "Mehr war es nicht, bis du mit einem seufzer zusammengebrochen bist."

Das Benjamin etwas bei seiner Erzählung ausließ entging dem Blonden nicht, doch er beließ es erst einmal dabei und nickte.

Lange überlegte Vaith seine nächsten Worte. Ging durch, was er so eben erfahren hatte.

Während seine Gedanken um die letzten Augenblicke kreisten, biss er sich auf die Lippen und kaute darauf herum. Langsam versuchte er seine Gedanken zu sortieren und in eine geordnete Linie zu bringen.

Was hatte er genau erfahren?

Im Grunde waren es zwei Dinge:

Das erste war, dass sie sich auf dem Holzweg befanden und an einem ganz falschen Ende suchten. Das Geheimnis das Fenrir umgab, war keines, dass direkt mit Mystis Werk zu tun hatte. Vielleicht gab es noch eine Verbindung, doch es war der falsche Weg. Wie Fenrir selbst gesagt hatte. Mystis Werk würde ihnen nicht verraten um wen es sich bei Fenrir nun genau handelte und warum sie im Meer trieb.

Das zweite war die Tatsache, dass mit Fenrir etwas nicht stimmte. Irgendetwas fühlte sich seltsam an ihr an.

Als sie ihm einen neuen Pfad eröffnete war es als wenn er mit einer falschen Fenrir sprechen würde... Nein. Nicht mit einer falschen Fenrir, sondern mit einer Fremden. Mit einer anderen Frau.

Sein Blick wanderte zu der Frau hinüber. Es umgab sie etwas seltsames. Ein Geheimnis dass er noch nicht begriff.

Das keiner von ihnen Begriff.

"Im Gleichgewicht. Zwischen Himmel und Erde. Zwischen Dunkel und Licht. Zu allem existiert ein Gegenstück", wiederholte Vaith langsam die Worte, die Fenrirs Lippen verlassen hatten. "Des Teufelskraft besitzt einen Ursprung", rezitierte er sie langsam und ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen.

Ließ sie selbst auf sich wirken.

"Was heißt das?", fragte Kiona, während sie Anoik auf ihre Arme hob, der gerade aus der Küche gestapft kam, als Vaith angefangen hatte vor sich hin zu murmeln.

Das Grün ihrer Augen wanderte zu Benjamin, der aufmerksam seinen Vizen musterte. Fenrir selbst sah von Ben zu Vaith und dann zu Kiona, nur um wieder zu Benjamin zu blicken, als würde sie einem Ballspiel verfolgen, dass nur sie sehen konnte.

"Für mich hört sich das nach zusammenhangslosem Mumpitz an", erklärte der Teddy freimütig und stupste mit seiner flauschigen Pfote Kiona an, dass diese sich setzen sollte.

Obwohl sie der unausgesprochenen Aufforderung ihres Teddys nach kam, schwenkte ihre Blick immer wieder unbeirrt zwischen Vaith und Ben hin und her, ähnlich wie Fenrir. Nur dass diese sich nun ebenfalls auf der Unterlippe kaute und unschlüssig herum stand.

Ihr war die Situation alles andere als genehm.

Für sie ergab das alles keinen Sinn.

Sie fühlte sich hilflos und etwas verloren.

Sollte sie gehen? Bleiben? Oder sich ebenfalls setzen?

Sollte sie sich an dem Gespräch beteiligen? Ebenfalls über diese Rätselhaften Worte nachdenken, die von ihr gekommen sein sollten?

Denn sie konnte sich nicht daran erinnern Vaith so etwas gesagt zu haben. Vor allem wann? Eben noch hatte Vaith ganz ruhig vor ihr gesessen und dann war er einfach von der Bank gefallen. Und dann stand er auf und murmelte Worte, die aus ihrem Mund stammen sollten?

Sie sah auf ihre Hand hinab, die sie leicht erhoben hatte.

Sie kam ihr so fremd vor.

Was war das mit ihr?

Warum hatte sie keine Erinnerungen an eine Zeit vor dem Schiff dieser Crew? Wer war sie und woher kam sie? Und warum war ihr, als gäbe es selbst in den Erinnerungen seit sie aufgewacht war, Lücken?

Als wenn sie kleine Blackouts während ihres Aufenteilts hier hatte?

Hilflos sah sie auf.

"Wer bin ich?", flüsterte sie, als ihr plötzlich Tränen in die Augen schossen.

Benjamin wandte sich von Vaith ab, der sich, zusammen mit Kiona umdrehte und sie ansah.

Ben wollte bereits den Mund öffnen, als Fenrirs brüchige Stimme ihn unterbrach.

"Warum bin ich hier?" Ihre Worte waren kaum zu verstehen, so leise war sie, während sie mühsam versuchte die Tränen zurück zu halten, die plötzlich in ihren Augen standen und ihr Sichtfeld vernebelten.

Es war ihr fast unmöglich zu schlucken, da sich plötzlich ein dicker Kloß in ihrem Hals befand. Mit einem mal hatte sie das Gefühl, als würde sie etwas erdrücken. Als wenn die Wände des Schiffes auf sie zu kamen und sie zu erdrücken suchten.

Ihr war, als wenn die Decke über ihr gleich zusammen brechen würde.

Unendliche Hilflosigkeit erfasste sie und drohte sie mit sich zu reißen, während sie sich fragte, warum das mit ihr geschah?

Warum befand sie sich auf einem Schiff? Warum trieb sie im Meer? Und warum besaß sie keinerlei Erinnerungen? Wo war ihr zu Hause? Wo gehörte sie hin?

Und warum gab es auf all diese Fragen keine Antworten?

"Warum kann sich mein Kopf nicht daran erinnern, wer ich bin? Warum weiß ich nicht, wohin ich gehöre?", wimmerte sie und schaffte es nicht, ihre Tränen zu unterdrücken. Langsam hob sie ihre Arme und schlang sie um sich selbst, während sie hilflos Benjamin anstarrte.

Ihr Körper begann zu bebeben, als sie ein Schluchzer erschütterte.

"Warum habe ich das Gefühl, wie eine... eine Ertrinkende um mich zu schlagen und doch nichts greifen zu können, dass mich retten kann? Nichts zu finden, was mir halt geben kann?" Ihre Knie zitterten, drohten unter ihr nach zu geben, während unaufhaltsam mehr Tränen ihre Augen verließen. Sie sah von Ben zu Kiona und dann zu Vaith.

Alle drei starrten sie an, ohne zu reagieren.

Dieser plötzliche Ausbruch, hatte sie alle drei überrascht und nun wusste kaum einer von ihnen, wie sie im ersten Moment reagieren sollten.

Doch plötzlich legte sich ein Arm um Fenrirs Schultern und als sie neben sich blickte, war da Grace. Das stumme Mädchen sah ihr in die Augen, während auf ihren Lippen ein Lächeln lag. Kein Wort konnte in diesem Moment beschreiben, was Fenrir in dem Gesicht des Mädchen las, doch was es war, es ließ jeden ihrer Dämme brechen. Als Fenrir zusammen mit ihr auf die Knie ging, drückte die Rosahaarige ihr Gesicht gegen die Schultern der kleineren Frau und begann hemmungslos zu weinen, während Grace sie in den Armen hielt und leicht hin und her wog. Dabei strich ihre Hand immer wieder über den Kopf der eigentlich fremden Frau, als wenn sie ein Kind streicheln würde.

Und so wirkte dieses bizarre Szenario auch.

Als wenn eine Mutter ihr weinendes Kind trösten würde. So zerbrechlich wirkte Fenrir in den Armen der Anderen, dass es Benjamin einen Stich versetzte.

Niemand sagte etwas und so war nur Fenrirs Weinen zu vernehmen.

 

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